Die schlechten Schuhe des Schusters

13.07.2007

Es ist erstaunlich, daß sich einer permanent wandelnden, globalisierenden, kommunizieren, integrierenden und "alles-mögliche"-ierenden Welt bestimmte Wahrheiten trotzdem unverändert ihre Gültigkeit behalten. Ich denke hier an Sprichwörter, besonders die eher weniger bekannte Aussage Der Schuster hat immer die schlechtesten Schuhe! Diese Feststellung kommt mir umso bemerkenswerter vor, als das sie nicht unbedingt einleuchtend ist: Warum hat der Schuster eigentlich die schlechtesten Schuhe? Trotz (oder wegen) dieser Frage kann man feststellen, daß selbst in heutigen Manufakturen - sprich Software-Systemhäusern - diese alte Weisheit immer noch Gültigkeit hat.


Bild:kaputter Schuh
Bevor ich mich weiter auslasse, sollte ich ich die Begriffe konkretisieren. Wie schon erwähnt, steht der Schuster für "Softwarehersteller" oder allgemein für "IT-(Beratungs-)Unternehmen". Was sind nun die Schuhe dieses Produzenten? Neben dem für manche Menschen schon schwer faßbaren Produkt "Software" bietet dieser noch weit weniger konkrete Ergebnisse seiner Tätigkeit an, wie zum Beispiel "(Geschäfts-)Prozesse optimieren" oder "kundenspezifische Anpassungen".

Faßbar sind diese Begriffe schon insofern schwer, weil man nicht eben in eine Laden gehen kann und eine Packung "Optimierter Geschäftsprozess" aus dem Regal nehmen kann. Gut, das liegt wohl daran, daß es hier um die Kategorie "Dienstleistung" geht. Trotzdem stehen solche Dinge auf den Werbezetteln der Hersteller genauso wie jeder Schuster die Dienstleistungen "Flicken" oder "Neubesohlen" im Portfolio hat.

Von der Logik der Sache würde man erwarten, daß ein Unternehmen, welches mit der Fähigkeit zur "Optimierung von Geschäftsprozessen" wirbt, seine eigenen Geschäftsprozesse nahe am Optimum fährt. Das hat die gleiche Bedeutung, wie man von einem Schuster erwartet, daß er die besten Schuhe hat. So weit, so gut. Nun unterstellt aber der Volksmund, daß der Schuster die schlechtesten Schuhe hat. Übertragen auf die IT-Welt zeigt sich das gleiche Bild. Geschäftsprozesse der jeweiligen Anbieten bewegen sich häufig nahe dem Chaos.

Warum ist das so?

Eine Begründung, warum ein Schuster schlechte Schuhe hat, kann ich leider nicht geben. Warum aber die Geschäftsprozesse in einem Unternehmen, daß selbiges als Dienstleistung verkauft, bemerkenswert schlecht laufen, konnte ich häufig genug beobachten und habe dazu eine Theorie entwickelt.

In IT-Unternehmen ist es nicht so, daß sich niemand um die Prozesse im eigenen Unternehmen kümmert. Eher das Gegenteil ist der Fall: Eine Überzahl an Mitarbeitern glaubt, die alleingültige Weisheit zu kennen und möchte sich an deren Realisierung beweisen. Es kommt zu einer unübersichtlichen Anzahl unausgegorener, experimenteller Konzepte, die teilweise miteinander konkurrieren. Nicht der Mangel führt zu schlechten Ergebnissen sondern das Überangebot führt in seiner Gesamtheit zurück einem hochorganisierten Chaos.

Hinzu kommt ein weiterer Aspekt. So schwer die Tätigkeit "Geschäftsprozess" zu fassen ist, so schwer lassen sich auf diesem Gebiet verwertbare Ergebnisse erzielen. Passen zum biblischen Spruch "Viele fühlen sich berufen, aber nur wenige sind auserwält" bewegen sich auf diesem Gebiet neben wenigen Experten noch unzählige Dilettanten und für diese Aufgabe wenig talentierte Personen. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn sich diese einfach anderen Themen zuwenden würden - bzw. man ihnen derartiges naheliegen würde. Macht man aber nicht. Geschäftsführer und Personalleiter werfen in der IT-Branche nur selten einen Mitarbeiter wegen Unfähigkeit heraus. Wenn sich dieser für den Einsatz beim Kunden als ungeeignet erweist, dann wird er - man ahnt es bereits - in den Innendienst gestellt.

Also: Wer es nicht schafft, bei einem zahlungskräftigen Kunden die Geschäftsprozesse zu optimieren, der macht das bei seinem eigenen Arbeitgeber. Das Ergebnis kann man sich mit wenig Phantasie ausmalen: Während der Schustermeister seine besten Schuhe verkauft, trägt er selbst den unverkäuflichen Rest auf. Diese Form der Resourcenschonung ist beinahe auch eine Form von Optimierung.

Gibt es eine Lösung für dieses Dilemma? Bevor ich mich an die Beantwortung dieser Frage mache, sollte ich erst die Frage beantworten, ob es überhaupt ein Dilemma ist. Erwartet man, daß ein Schuster gute Schuhe trägt? Oder mehr marktwirtschaftlich gedacht: Hat der Schuster mit dem guten Schuhwerk an den Füßen einen Verkaufsvorteil gegenüber seinem Konkurrenten mit weniger gutem Fußkleid? Leider kenne ich mich im Schuhgeschäft zu wenig aus, um diese Frage zu beantworten. Im Softwarebereich kann ich diese Frage eindeutig mit "Nein" beantworten. Ein IT-Unternehmen mit chaotischen Geschäftsprozessen scheint sogar einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den Optimierern zu haben. Das klingt erstmal paradox - schließlich wirft diese Firma eine Menge Geld unnötig zum Fenster heraus. Der entscheidende Wettbewerbsvorteil kommt von anderer Seite - wieder von den Mitarbeitern.

Fakt ist: Wenn alles schön durchorganisiert und -optimiert ist, dann hat man relativ wenig Freiheiten. Jede Abweichung vom geplanten Kurs bedeutet eine Verschlechterung. Die Angestellen in so einem Unternehmen sind in ein ziemlich enges Korsett gepresst. Das mag in vielen Branchen vorteilhaft sein, wenn man selbst als Optimierer tätig sein möchte ist es ein Nachteil. In der Tätigkeit braucht man Bewegungsmöglichkeit und muß die eingetretenen Pfade verlassen können. Das ist umso einfacher, wenn in der es in der eigenen Firma gar keine eingetretenen Pfade gibt. Wenn jeder frei herumlaufen kann, dann man den optimalsen Pfad finden und ihn verkaufen. Meine Argumentation mag etwas 'um die Ecke' gedacht sein, aber ich glaube, ich habe recht.

Wie man diesen Gedanken auf die Schuhproduktion übertragen kann, fällt mir im Moment nicht ein. Eventuell kann man es so vorstellen: Man muß schlechte Schuhe tragen umd die Schwachpunkte der Schuhe besser zu erkennen. Dann kann man Schuhe produzieren, die diese Schwachpunkte nicht haben. Ob das bei Schuhe wirklich funktioniert, kann ich nicht sagen. Bei Software ist es definitiv richtig.

Vermutlich sind diese Gedanken noch nicht des Rätsels Lösung für die schlechten Schuhe des Schustern oder schlechte hausinterne Software bei den Herstellern. Ganz sicher ist es keine Begründung dafür, warum manche Programmierer schlechte Schuhe tragen. Das ist eher eine Frage der Bequemlichkeit.